Es ist in ethischen Diskussionen ratsam, sich nicht allein auf das eigene Bauchgefühl zu verlassen. Vielmehr ist es hilfreich, fundierte Argumente für die eigene Meinung zu haben. Viele Denker haben sich bereits mit ethischen Dilemmata auseinandergesetzt und dabei Einsichten gewonnen, die auch heute noch relevant und überzeugend sind. Drei solcher Denker werden in diesem Kapitel vorgestellt. Sie repräsentieren jeweils unterschiedliche Ansätze im menschlichen Miteinander: die Pflichtethik, den Utilitarismus und die Mitleidsethik. Ihre Ansichten können auf das Thema Organspende angewandt werden und bieten eine Fülle von Argumenten zur Unterstützung Ihrer eigenen Position.
Organspende: Argumente finden
Kant, Bentham und Schopenhauer: ihre Sicht der Dinge
Immanuel Kant: Pflichtethik
Immanuel Kant argumentiert, dass für moralisches Handeln vor allem die menschliche Vernunft ausschlaggebend ist, nicht die Konsequenzen der Handlung. Er glaubt, dass Menschen von Natur aus sittlich handeln, basierend auf moralischen Prinzipien, nicht aufgrund der Ergebnisse ihrer Taten. Kant betonte, dass Menschen unabhängig von externen Umständen zu Entscheidungen fähig sein sollten. Daher wäre die Zustimmung zur Organspende nach Kants Philosophie eine intrinsische und autonome Entscheidung, die unabhängig davon getroffen wird, ob jemand tatsächlich als Spender in Frage kommt.
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Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
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Immanuel Kant: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten
Es liegt also der moralische Wert der Handlung nicht in der Wirkung, die daraus erwartet wird, also auch nicht in irgend einem Prinzip der Handlung, welches seinen Bewegungsgrund von dieser erwarteten Wirkung entlehnen bedarf. [...]
Es kann daher nichts anderes als die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst, die freilich nur im vernünftigen Wesen stattfindet, sofern sie, nicht aber die verhoffte Wirkung, der Bestimmungsgrund des Willens ist, das so vorzügliche Gute, welches wir sittlich nennen, ausmachen, welches in der Person selbst schon gegenwärtig ist, die danach handelt, nicht aber allererst aus der Wirkung erwartet werden darf. [...]
Da ich den Willen aller Antriebe beraubet habe, die ihm aus der Befolgung irgend eines Gesetzes entspringen könnten, so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlungen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Prinzip dienen soll, d.i. ich soll niemals anders verfahren, als so, daß ich auch wollen könne, meine Maxime solle ein allgemeines Gesetz werden.
Aufgabe
Wie kommt der Mensch nach Kant zur Handlung? Ziehe die Begriffe zu den richtigen Symbolen.
Jeremy Bentham: Utilitarismus
Jeremy Bentham sieht die Konsequenzen einer Handlung als maßgeblich für deren moralischen Wert an. Sein ethisches Prinzip betont, dass Handlungen darauf abzielen sollten, das größtmögliche Glück für die größtmögliche Zahl von Menschen zu erzeugen. Für Bentham ist also das Wohl der Gemeinschaft entscheidend, und individuelles Handeln sollte darauf ausgerichtet sein, dieses Wohl zu fördern, was wiederum das eigene Wohl beeinflussen kann.
Im Kontext der Organspende würde Bentham argumentieren, dass die Entscheidung sowohl das Wohl des Spenders als auch das des Empfängers berücksichtigen sollte. Wenn durch die Organspende sowohl der Spender gesundheitlich unbeeinträchtigt bleibt als auch der Empfänger Gesundheit oder sogar Leben gewinnt, wäre dies nach Bentham die ethisch korrekte Entscheidung, da sie das größte Glück für beide Parteien fördert.
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Jeremy Bentham: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung
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Jeremy Bentham: Eine Einführung in die Prinzipien der Moral und der Gesetzgebung
Unter dem Prinzip der Nützlichkeit versteht man jenes Prinzip, wonach jede nützliche Handlung, gleich welcher Art, in dem Maße anerkannt oder abgelehnt wird, wie sie die Eigenschaft zu haben scheint, das Glück derjenigen zu vergrößern oder zu verkleinern, deren Interesse infrage steht [...]. [...]
Unter Nützlichkeit versteht man die Eigenschaft einer Sache, Nutzen, Vorteil, Vergnügen, Gutes oder Glück zu erzeugen [...] oder [...] Unheil, Schmerz, Übel oder Unglück von denjenigen abzuwenden, deren Interesse betrachtet wird: wenn es sich um die Allgemeinheit handelt, dann das Glück der Allgemeinheit; wenn es sich um ein bestimmtes Individuum handelt, dann das Glück dieses Individuums. [...]
Es ergibt keinen Sinn, vom Interesse der Allgemeinheit zu sprechen, ohne zu verstehen, worin das Interesse des Individuums besteht. [...]
Man kann also sagen, dass eine Handlung dem Prinzip der Nützlichkeit entspricht [...], wenn sie eher die Tendenz hat, das Glück der Allgemeinheit zu vergrößern als es zu verringern. [...]
Von einer Handlung, die dem Prinzip der Nützlichkeit entspricht, kann man immer entweder sagen, sie soll getan werden, oder zumindest, dass sie keine Handlung ist, die nicht getan werden sollte [...].
Aufgabe
Wie kommt der Mensch nach Bentham zur Handlung? Ziehe die Begriffe zu den passenden Symbolen.
Arthur Schopenhauer: Mitleidsethik
Arthur Schopenhauer, bekannt für seine deskriptive Ethik, konzentriert sich weniger auf moralische Prinzipien als auf das zwischenmenschliche Verhalten und die Empathie. Er geht davon aus, dass Menschen fähig sind, einander empathisch zu verstehen und auf dieser Basis zu handeln. Für Schopenhauer ist es also das Mitleid, das die ethischen Entscheidungen der Menschen leitet, nicht der Egoismus.
Im Kontext der Organspende argumentiert Schopenhauer, dass das unmittelbare Leid eines kranken Menschen eine stark motivierende Kraft für einen potenziellen Spender sein kann, um altruistisch zu handeln. Die Entscheidung, Organe zu spenden, wird somit aus Mitgefühl getroffen, um das Leiden des Empfängers zu lindern. Nach Schopenhauer ist diese Handlung ethisch geboten, da sie auf einem tiefen Verständnis und Mitgefühl für das Leid anderer beruht
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Arthur Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral
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Arthur Schopenhauer: Über die Grundlage der Moral
Wenn nun aber meine Handlung ganz allein des Andern wegen geschehen soll; so muß sein Wohl und Wehe unmittelbar mein Motiv seyn [...]. [...]
Dies aber setzt nothwendig voraus, daß ich bei seinem Wehe als solchem geradezu mitleide, sein
Wehe fühle, wie sonst nur meines, und deshalb sein Wohl unmittelbar
will, wie sonst nur meines. Dies erfordert aber, daß ich auf irgend eine
Weise mit ihm identificirt sei, d.h. daß jener gänzliche Unterschied zwischen mir und jedem Andern, auf welchem gerade mein Egoismus beruht, wenigstens in einem gewissen Grade aufgehoben sei. [...]
Der hier analysirte Vorgang aber ist kein erträumter, oder aus der Luft gegriffener, sondern ein ganz wirklicher, ja, keineswegs seltener: es ist das alltägliche Phänomen des Mitleids, d.h. der ganz unmittelbaren, von allen anderweitigen Rücksichten unabhängigen Theilnahme zunächst am Leiden eines Andern und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens, als worin zuletzt alle Befriedigung und alles Wohlseyn und Glück besteht. Dieses Mitleid ganz allein ist wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe. Nur sofern eine Handlung aus ihm entsprungen ist, hat sie moralischen Werth: und jede aus irgend welchen andern Motiven hervorgehende hat keinen.
Aufgabe
Ordnen Sie die passenden Begriffe den Symbolen per Drag-and-Drop-Funktion zu. Ziehen Sie die Begriffe zu den passenden Symbolen.
Aufgabe
Nachdem du dich mit den philosophischen Ansätzen von Kant, Bentham und Schopenhauer beschäftigt hast, solltest du nun in der Lage sein, eine fundierte eigene Position zu entwickeln.
- Wähle den Ansatz aus, der dich am meisten überzeugt: Welcher der drei philosophischen Ansätze erscheint dir am schlüssigsten, wenn es um die Frage der Organspende geht? Erkläre, warum du diesen Ansatz bevorzugst.
- Persönliche Entscheidung in einer hypothetischen Situation: Stell dir sich vor, dein Bruder leidet unter akutem Nierenversagen und die einzige Überlebensmöglichkeit wäre eine Nierenspende von dir. Würdest du dich entscheiden, ihm eine Niere zu spenden? Begründe deine Entscheidung unter Berücksichtigung der philosophischen Perspektiven, die du gerade kennengelernt hast.