Der russische Präsident Wladimir Putin erklärte am 22.02.2022 in einer Fernsehansprache seinem Publikum die historische Verbindung zwischen Russland und der Ukraine aus seiner Sicht. Dabei stellte er die Behauptung auf, die Ukraine sei eine „Schöpfung Russlands“. Zwei Tage später befahl er seinen Truppen den Überfall auf die Ukraine. Nun ist Wladimir Putin Präsident und kein Historiker. Wenn er historische Vorträge hält, hat das wahrscheinlich einen politischen Grund. Welcher Grund das sein könnte und ob seine Aussagen haltbar ist, werden wir in diesem Kapitel untersuchen.
Die Ukraine – eine „Schöpfung Russlands“?
Quelle
„Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“ – ein historischer Aufsatz von Wladimir Putin
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„Zur historischen Einheit von Russen und Ukrainern“ – ein historischer Aufsatz von Wladimir Putin
Hinweis: Der folgende Text stammt aus einem Aufsatz, den der russische Präsident Wladimir Putin am 12.6.2021 veröffentlichte. In diesem Text versucht Putin historisch herzuleiten, dass es sich bei Ukrainern und Russen (und Belarussen) um ein und dasselbe Volk handele.
Als ich kürzlich [...] nach den russisch-ukrainischen Beziehungen gefragt wurde, sagte ich, dass Russen und Ukrainer ein Volk sind – ein einziges Ganzes. Diese Worte wurden nicht von kurzfristigen Erwägungen getrieben oder vom aktuellen politischen Kontext veranlasst. [...]
Russen, Ukrainer und Weißrussen sind alle Nachkommen der alten Rus, dem größten Staat Europas. Slawische und andere Stämme auf dem riesigen Territorium – von Ladoga, Nowgorod und Pskow bis nach Kiew und Tschernigow – waren durch eine Sprache (die wir heute als Altrussisch bezeichnen), wirtschaftliche Bindungen und die Herrschaft der Fürsten der Rurik-Dynastie miteinander verbunden, und – nach der Taufe von Rus – der orthodoxe Glaube. Die geistliche Wahl des hl. Wladimir, der sowohl Fürst von Nowgorod als auch Großfürst von Kiew war, bestimmt noch heute weitgehend unsere Zugehörigkeit. [...]
Am wichtigsten ist, dass die Menschen in den westlichen und östlichen russischen Ländern dieselbe Sprache sprachen. Ihr Glaube war orthodox. Bis Mitte des 15. Jahrhunderts blieb die einheitliche Kirchenregierung in Kraft. [...]
Das 'historische' Argument Putins: Lenins Nationalitätenpolitik
Der Staat, aus dem die heutige Ukraine 1991 hervorging, war die
'Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik'. Sie wurde Anfang 1919 in
Kiew ausgerufen. Gegründet wurde sie von ukrainischen und
russischen Kommunisten. Die Kommunisten (Bolschewiki) waren nach der Oktoberrevolution die neuen
Machthaber in Russland. Sie waren 1917 an die Macht
gekommen und versuchten nun, das untergegangene Zarenreich unter ihrer
Herrschaft neu zu ordnen.
Warum schufen russische Kommunisten einen ukrainischen Staat?
Die Bolschewiki, deren Herrschaft zu Beginn bedroht war, benötigten schnell die Unterstützung möglichst vieler Einwohner des alten Zarenreichs. Militärisch bekämpften sie Unterstützer des Zarenreichs und auswärtige Mächte. Nach dem Ende der alten Ordnung des russischen Zarenreichs hofften viele Nationalbewegungen darauf, ihren eigenen Staat zu erhalten. Die Bolschewiki strebten danach, diese Nationalbewegungen auf ihre Seite zu ziehen, um gemeinsam gegen ihre Gegner zu kämpfen, indem sie nationale Autonomierechte versprachen. Diese Versprechungen wurden von den wenige Jahre später gegründeten Sowjetrepubliken nur oberflächlich erfüllt: Die wahre Macht in all diesen neuen Republiken lag in den Händen der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, also der Führungskader der Bolschewiki.
Darstellung
Wladimir Putin will sich nicht mit dem Zerfall der Sowjetunion abfinden.
Darstellung
Wladimir Putin will sich nicht mit dem Zerfall der Sowjetunion abfinden.
All diese Sowjetrepubliken wurden auf Territorien gegründet, die 1914, vor dem Ersten Weltkrieg, noch zum russischen Zarenreich gehört hatten. Die Gründung all dieser neuen Sowjetrepubliken verkleinerte das Territorium des übrig bleibenden russischen Territoriums also erheblich. Die russische Sowjetrepublik war zwar die mit Abstand größte Republik der Sowjetunion, sie war aber erheblich kleiner als das alte Russische Reich. Für Putin wurden mit der Gründung all dieser Sowjetrepubliken also riesige Landesteile aus Russland herausgetrennt und zu eigenen Staaten gemacht.
Solange die Sowjetunion bestand, fiel das nicht wirklich auf. Denn die Teilrepubliken wurden ja faktisch alle von der Kommunistischen Partei in Moskau regiert. Als die Sowjetunion allerdings 1991 aufgelöst wurde, fiel das ganze System auseinander: Übrig blieb ein russischer Staat, der erheblich kleiner als das frühere Zarenreich war und viele nun tatsächlich unabhängige Staaten.
Aufgabe
Weshalb hat sich Wladimir Putin nie mit dem Ende der Sowjetunion abgefunden?
- Recherchiere im Internet nach der Biografie Putins und leite Anhaltspunkte für seine Haltung ab.
- Können die Erfahrungen Putins eine Begründung für einen Krieg sein? Begründe deine Meinung.
- Bewerte die Aussage, dass die Ukraine eine Schöpfung Russlands sei, unter Zuhilfenahme der obigen Materialien.
Was Putin nicht erwähnt: die ukrainische Nationalbewegung
Die Menschen in der Ukraine hatten tatsächlich nicht darauf gewartet, dass russische Kommunisten ihnen einen Staat schenkten. Zwischen 1917 und 1919 unternahmen verschiedene ukrainische Nationalbewegungen den Versuch, einen eigenen ukrainischen Nationalstaat zu etablieren. Diese Bemühungen waren jedoch von kurzer Dauer, hauptsächlich aufgrund innerer Konflikte oder Angriffe aus Nachbarländern. Die letzte dieser ukrainischen Staatsgründungen wurde 1919 von der Eroberung großer Teile der Ukraine durch die Rote Armee beendet. Erst danach errichteten die Bolschewiki in den von ihnen eroberten Gebieten der Ukraine die Ukrainische Sowjetrepublik.
Galerie: ukrainische Nationalstaaten
Darstellung
Hatte die Ukraine nach Ende des Ersten Weltkriegs das, was ein Nationalstaat braucht?
Darstellung
Hatte die Ukraine nach Ende des Ersten Weltkriegs das, was ein Nationalstaat braucht?
Am Ende des Ersten Weltkriegs entstanden in Osteuropa viele neue Staaten auf dem früheren Territorium der Vielvölkerreiche Russland und Österreich-Ungarn. Dies war möglich, weil Österreich-Ungarn den Krieg verloren hatte und in Russland die Herrschaft der Zaren zusammengebrochen war. Auf diesem Gebiet beanspruchten nun verschiedene Nationalbewegungen die Gründung eigener Nationalstaaten.
Die Ukraine erfüllte alle Kriterien, die damals als Voraussetzung für den Anspruch auf einen eigenen Staat galten:
- Sie hatte eine eigene Sprache.
- Das Gebiet wurde von einer Mehrheit der Bevölkerung bevölkert, die diese Sprache sprach.
- Es existierten Formen einer spezifischen nationalen Kultur, wie zum Beispiel Literatur, Musik und Brauchtum.
- Eine Nationalbewegung wurde von einer intellektuellen Elite angeführt.
Was den Vertretern einer ukrainischen Nationalstaatsgründung jedoch fehlte, war internationale Unterstützung für ihre Pläne. Die meisten neuen Staatsgründungen wurden in den Pariser Friedensverträgen von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs beschlossen. Den Ukrainern gelang es jedoch nicht, ihre Forderung nach einem international anerkannten und unterstützten ukrainischen Nationalstaat durchzusetzen.
Gedicht
Taras Schewtschenko, „In der Fremde“
Gedicht
Taras Schewtschenko, „In der Fremde“
Taras Schewtschenko (1814–1861) gilt bis heute zusammen mit Nikolai Gogol als der bedeutendste ukrainische Dichter des 19. Jahrhunderts.
Die Sonne wärmt nicht in der Fremde
Und brannte doch daheim so heiß…
In der ruhmvollen Ukraine
War ich ja auch nicht froh, Gott weiß.
Hat mich doch niemand dort geliebt,
War ich allein doch und verlassen…
Ich irrte, betete zu Gott,
Fluchte die feilen Herrscherklassen,
Dacht’ an die alten, bösen Zeiten,
Da Wahrheit kreuz’gen war die Mode;
Gekreuzigt wurde Christus damals,
Heut’ auch entging’ er nicht dem Tode.
Nein, nirgend bin ich froh und nirgend
Werd’ ich’s auch sein – so sei es drum!
Und doch auch in der fernen Fremde
Wünscht’ ich, und das auch nur darum,
Daß mir der Sarg vom fremden Holze
Von Russen nicht gezimmert werde,
Daß mir von meinem heil’gen Dnipr
Auch nur ein kleines Stückchen Erde
Die heil’gen Winde brächten her.
Und nichts mehr, Brüder, gar nichts mehr!
Ein einz’ger Wunsch, und doch vergebens!
Wird von der Zeit er weggespült!
Wozu auch Gott damit beläst’gen?
Er wird doch bleiben unerfüllt!
Kommentar
Und was ist eigentlich mit Russland?
Kommentar
Und was ist eigentlich mit Russland?
Bei all seinen historischen Überlegungen lässt Wladimir Putin einen nicht ganz unerheblichen Umstand völlig unerwähnt: Sein Staat, die Russische (oder Russländische) Föderation, ist genau wie die Ukraine der Nachfolgestaat einer kommunistischen Gründung: der russischen Sowjetrepublik. Aus nationaler Perspektive sind beide Staaten – russische Sowjetrepublik und Russische Föderation – noch viel 'ungewöhnlichere' Staaten als die Ukraine.
Putin definiert oben in Element 3 ein nationales Fundament für
Russland, bestehend aus dem historischen Siedlungsraum einer
slawischsprachigen Bevölkerung mit orthodoxem Glauben. Er meint, zu
diesem Siedlungsraum gehöre eben auch die heutige Ukraine (und Belarus).
Was aber definitiv nicht zu diesem Siedlungsraum gehört, ist Sibirien,
also der asiatische Teil Russlands sowie große Teile Südrusslands. Hier
leben ursprünglich Tataren, Baschkiren, Tschuwaschen, Burjaten, Jakuten
u. v. m., in Südrussland ist der Islam an vielen Orten die
Mehrheitsreligion.
Putin regiert einen Vielvölkerstaat, den die Kommunisten mit ihrer
Konstruktion der Sowjetrepubliken über eine Zeit gerettet haben, in der
alle Vielvölkerreiche zerbrachen und zu kleineren nationalen Einheiten
umgeformt wurden. Er versucht nun, mit klassisch nationalistischen
Argumenten (gemeinsame Sprache, Religion, Kultur) einen Anspruch zu
begründen, das Schicksal der Ukraine mitbestimmen zu können. Wenn diese
Argumente jedoch konsequent auf den russischen Staat angewendet
werden würden, müsste dieser in mehrere Einzelteile zerfallen.
Darstellung
Der ukrainische Autor Mykola Rjabtschuk über die Chance, die Russland hat, wenn es sich von imperialen Vorstellungen lösen würde
Darstellung
Der ukrainische Autor Mykola Rjabtschuk über die Chance, die Russland hat, wenn es sich von imperialen Vorstellungen lösen würde
So betrachtet, haben die russischen Machthaber Grund zur Beunruhigung, denn schon die Existenz der modernen ukrainischen Identität untergräbt die russische imperiale Identität. Gleichzeitig eröffnet sich ihnen aber die große Chance, eine neue, 'normalere' und zu einer modernen Welt passende nationale Identität zu entwickeln. Genau das meinte wohl Zbigniew Brzezinski in seinem berühmten Satz von 1992: „Indem sie das russische Imperium zerstört hat, hat die unabhängige Ukraine für Russland selbst – sowohl für den Staat als auch für die Nation – die Möglichkeit geschaffen, endlich demokratisch und europäisch zu werden.“
Aufgabe
- Formuliere eine eigene Meinung zu folgender Frage: Ist die Ukraine heute eine „Schöpfung Russlands“ oder ein normaler, unabhängiger Staat?
- Überlege, ob die Antwort auf diese Frage heute irgendeine Bedeutung hat. Begründe deine Posiution.
- Erschließ die Gründe Wladimir Putins dafür, dass er die Ukraine als eine „Schöpfung Russlands“ darstellt?