An diesen zwei Herren scheiden sich die Geister – warum eigentlich?
Ivan Mazepa und Stepan Bandera – ukrainische Helden oder ukrainische Verräter?
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Wie in allen Nationalgeschichten so gibt es auch in der
ukrainischen Geschichte Personen, die in der Gegenwart sehr unterschiedlich beurteilt werden. Die Anführer Ivan Mazepa (1639-1709) und Stepan Bandera (1909-1959) sind dafür zwei Beispiele. Sie werden in der Ukraine und in Russland
(manchmal auch in der West- und Ostukraine) sehr unterschiedlich
betrachtet. Für die einen sind sie Helden, für die anderen Verbrecher. In
diesem Modul werden wir uns beiden Personen zuwenden. Dabei geht es um ihre Bedeutung in der
ukrainischen Geschichte und in der aktuellen ukrainischen
Gedenkkultur. Dann kannst du besser verstehen, warum sie auf beiden Seiten des Konflikts so starke Gefühle hervorrufen.
Ivan Mazepa – ein Kosak wechselt die Seiten
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Im Jahr 1687 wurde Ivan Mazepa (1639–1709) zum Hetman der ukrainischen Kosaken gewählt. Zu dieser Zeit war das kosakische Hetmanat bereits Teil des russischen Zarenreichs. Die Kosaken betrachteten sich als Untertanen des Zaren. In ihrem Hetmanat jedoch wollten sie über ihre Angelegenheiten selbst bestimmen und ihre Heimat gegen äußere Feinde, insbesondere Polen, Türken und Tataren, verteidigen.
Der russische Zar Peter der Große (1672-1725) bestieg im Jahr 1682 den Thron. Er war gegen kosakische Sonderrechte und schränkte die Freiheiten der Kosaken ein. Sie wurden zum russischen Militär und zu Arbeitsdiensten im gesamten Reich gezwungen. Im Jahr 1700 begann Zar Peter den 'Großen Nordischen Krieg' gegen den schwedischen König Karl XII. Dieser Krieg verlief zunächst schlecht für die russische Seite und auch für die kosakischen Truppen. Unter dem Befehl russischer Generäle wurden sie in Schlachten fernab ihrer Heimat getrieben. Viele kosakische Kämpfer starben.
Ivan Mazepa (1639–1709, linke Seite) und Peter der Große (1672–1725, rechte Seite)
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Ivan Mazepa entschied sich 1708 zu einem Seitenwechsel. Nachdem ihm der schwedische König versprochen hatte, das ukrainische Hetmanat zurückzuerobern und seine Unabhängigkeit wiederherzustellen, lief Ivan Mazepa zum schwedischen König über. Zar Peter war über Mazepas Frontenwechsel empört und befahl, dessen Hauptstadt Baturyn niederzubrennen sowie die Kosaken anzuweisen, einen neuen Hetman zu wählen. Dies führte zu einer Spaltung der ukrainischen Kosaken: Einige schlossen sich Mazepa auf der schwedischen Seite an, während andere dem russischen Zaren treu blieben. Die Entscheidungsschlacht fand 1709 in Poltawa (heutige Ukraine) statt, bei der die russischen Truppen die Schweden besiegten. Mazepa musste fliehen und verstarb kurz darauf.
Der schwedische König Karl XII. (sitzend) und Ivan Mazepa (rechts stehend über ihm) nach der Schlacht von Poltawa, Gemälde, um 1880
Ansichten über Ivan Mazepa
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Darstellung
Eine oft in Russland vertretene Sicht: der Verräter Mazepa
Aus russischer Sicht war die Sache klar: Mazepa und die ihm folgenden
Kosaken waren Verräter. Sie hatten dem Zaren die Treue geschworen und
hatten dann Russland in der Stunde der Not verlassen und sich seinen
Feinden angeschlossen. Das Streben der Kosaken nach Unabhängigkeit war
Verrat am russischen Reich, denn in diesem Reich war kein Platz für die
alten Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte der Kosaken.
In der Zeit nach der Schlacht von Poltawa bis heute wurden
'Mazepismus' und 'Mazepisten' russische Schimpfwörter für jede
Bestrebung, die Ukraine gegenüber Russland unabhängiger zu machen. In
der Sicht vieler Russen gehört die Ukraine spätestens seit dem Treueeid
der Kosaken 1654 zu Russland. Ukrainer, die daran etwas ändern wollen,
stehen in der 'verräterischen und spalterischen Tradition' Ivan Mazepas.
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Darstellung
Eine oft in der Ukraine vertretene Sicht: der Freiheitskämpfer Mazepa
Die Sicht vieler Ukrainer ist eine andere: Ihrer Meinung nach hatte
Mazepa durchaus ein Recht, sich vom russischen Zaren abzuwenden, denn
dieser hatte davor viele Versprechen aus der Abmachung von 1654
gebrochen. Zunächst waren viele der den ukrainischen Kosaken gewährten
Freiheiten von Peter dem Großen abgeschafft worden. Die Kosaken hatten
niemals eingewilligt, in Arbeits- und Militärdiensten überall im
russischen Reich eingesetzt zu werden. Sie waren von Peter aber genau
dazu gezwungen worden.
Der 'wahre russische Verrat' hätte aber 1708 während des Großen
Nordischen Kriegs stattgefunden: Während die Kosaken im russischen Heer
weit entfernt gegen die Schweden kämpften, drohte der polnische König,
ein Verbündeter Schwedens, offen mit der Eroberung ihrer Heimat.
Russland, das zu dieser Zeit vor allem im Baltikum kämpfte, war nicht
bereit, Truppen in den Süden zu verlegen, um das kosakische Hetmanat zu
schützen. Der Schutz vor einer polnischen Invasion war aber genau der
Grund gewesen, warum die Kosaken dem Zaren überhaupt den Treueeid
geleistet hatten. Aus Sicht der Kosaken (und vieler Ukrainer bis heute)
war das eine eindeutige Verletzung der ausgehandelten Bündnispflichten
und Mazepas Wechsel auf die schwedische Seite somit der gerechtfertigte
Versuch, die Unabhängigkeit seiner kosakischen Heimat zu schützen.
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Aufgabe
Arbeite die beiden Darstellungen über Mazepa (Elemente 7 und 8) durch.
Findest du die Bezeichnungen „Verräter“ und „Freiheitskämpfer“ zur Bezeichnung der Personen angemessen? Begründe deine Meinung.
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Galerie: Das Gedenken an Ivan Mazepa in der Ukraine
Ukrainische Soldaten im Jahr 2008 vor dem Denkmal der gefallenen Kosaken in Poltawa
Vertiefung: Mazepa in der Kunst
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Quelle
Auszug aus dem englischen Gedicht 'Mazeppa' von Lord Byron (1819)
englischer Originaltext
’TWAS after dread Pultowa’s day, When fortune left the royal Swede, Around a slaughter’d army lay, No more to combat and to bleed. The power and glory of the war, Faithless as their vain votaries, men, Had pass’d to the triumphant Czar, And Moscow’s walls were safe again, Until a day more dark and drear, And a more memorable year, Should give to slaughter and to shame A mightier host and haughtier name; A greater wreck, a deeper fall, A shock to one—a thunderbolt to all.
[...]
Among the rest, Mazeppa made His pillow in an old oak’s shade – Himself as rough, and scarce less old, The Ukraine’s hetman, calm and bold; But first, outspent with this long course, The Cossack prince rubb’d down his horse, And made for him a leafy bed, And smooth’d his fetlocks and his mane, And slack’d his girth, and stripp’d his rein, And joy’d to see how well he fed; For until now he had the dread His wearied courser might refuse To browze beneath the midnight dews: But he was hardy as his lord, And little cared for bed and board; But spirited and docile too; Whate’er was to be done, would do.
deutsche Übersetzung
Bei Pultawa in wilder Schlacht Verließ das Glück die Schwedenmacht; Ein Leichenhaufen war das Heer, Es kämpft und blutet jetzt nicht mehr. Falsch wie der Mensch, der ihn begehrt, Erscheint der Ruhm, treulos das Schwert: Denn siegreich triumphiert der Zar, Und Moskau droht nicht mehr Gefahr; Bis einst ein schlimmrer Tag anbricht, Ein Jahr von größerem Gewicht, Das schmählich stürzt ein Kaiserthum Von stärkrer Macht und stolzerm Ruhm, Und Einer kommt zu tieferm Falle, – Ein Donnerschlag wird's sein für Alle.
[...]
Im Schatten einer Eiche machte Am Boden, in gewohnter Weise, Mazeppa sich's bequem, der greise Kosakenhetman – Mancher dachte, Daß wohl an Kraft und auch an Jahren Er und der Baum sich ähnlich waren. Doch reibt vorher sein müdes Roß Noch der Beherrscher der Ukraine, Macht ihm ein Bett aus Laub und Moos Und streichelt freundlich ihm die Mähne; Er löst den Gurt, nimmt ihm den Zaum Und freut sich, daß es munter frißt: Denn kurz zuvor noch hofft er's kaum, Weil gar zu matt das Roß doch ist. Doch wie der Herr, so hat das Pferd Auch diesmal seine Kraft bewährt;
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Darstellung
Russische Reaktionen auf Lord Byrons Gedicht
In Lord Byrons Gedicht wird Ivan Mazepa als romantischer Held
dargestellt. Das Gedicht wurde auch in Russland gelesen, seine Aussage
gefiel dort aber nicht jedem. Der russische Dichter Alexander Puschkin
schrieb daraufhin sein Gedicht 'Poltava', später komponierte der
russische Komponist Pjotr Tschaikowsky seine Oper 'Mazeppa', deren
Handlung auf dem Puschkin-Gedicht basierte. In beiden Werken wird Ivan
Mazepa negativer, als Revoluzzer und Ränkeschmied, dargestellt.
Eine Zusammenfassung der Opern-Handlung kann man sich auf der zugehörigen Wikipedia-Seite ansehen, ein Trailer zu einer Inszenierung findet sich unten:
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§Trailer einer Opernaufführung des Stücks 'Mazepa'
Stepan Bandera – mit den Nazis für die Unabhängigkeit?
Im Jahr 1939 saß der ukrainische Nationalist Stepan Bandera in einem
polnischen Gefängnis. Er wurde beschuldigt, an der Ermordung des
polnischen Innenministers beteiligt gewesen zu sein. Dann begann der
Zweite Weltkrieg, Polen wurde von Deutschland und der Sowjetunion
erobert und aufgeteilt. Bandera kam frei. Er ging ins von den Deutschen
eroberte Krakau und bot den Nationalsozialisten eine Zusammenarbeit mit
seiner Organisation, der OUN (Organisation Ukrainischer Nationalisten),
an.
Bandera hoffte, mithilfe der Deutschen die Ukraine von der
kommunistischen Herrschaft zu befreien und einen unabhängigen
ukrainischen Staat errichten zu können. Die Nationalsozialisten hofften,
die OUN im anstehenden Kampf gegen die Sowjetunion als Verbündete
nutzen zu können. Der Plan der Nationalsozialisten funktionierte, der
Plan Banderas nicht.
Sowjetische Karikatur über den KZ-Häftling Bandera (1943/44)
Im Jahr 1941 erklärte Deutschland der Sowjetunion den Krieg, fiel in der
Ukraine ein und eroberte sie. Als daraufhin Banderas OUN in Lwiw eine
unabhängige Ukraine ausrief, zeigten sich die Deutschen wenig dankbar.
Bandera wurde verhaftet und ins KZ-Sachsenhausen als 'Sonderhäftling'
gebracht. Die Ukraine wurde ein deutsches 'Reichskommissariat'. Dieser
deutsche Verrat hinderte viele OUN-Kämpfer jedoch nicht, weiter für die
Wehrmacht und die Waffen-SS zu kämpfen und dabei mehrere Massaker an
Polen und Juden zu begehen.
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§Ein Beitrag der ARD-Sendung Panorama zur Erinnerungskultur in der Ukraine aus dem Jahr 2014
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Darstellung
Stepan Bandera und die Nationalsozialisten
Dass Stepan Bandera mit den deutschen Nationalsozialisten
zusammengearbeitet hat, ist eine Tatsache. Er hat 1939 diese
Zusammenarbeit aktiv gesucht und vorgeschlagen. Er wurde zwar später von
denselben Nationalsozialisten verhaftet und eingesperrt, das lag aber
nicht daran, dass sich Bandera gegen die Nationalsozialisten gestellt
hätte, sondern daran, dass die Nationalsozialisten andere Ziele für die
Ukraine hatten als Bandera.
Ob Bandera auch dieselbe Weltsicht wie die Nationalsozialisten hatte,
kann nur spekuliert werden. Es spricht aber einiges dafür, dass er
zumindest ihre Vorstellung von völkischer Reinheit, ihren Antisemitismus
sowie ihren Russenhass teilte. Die OUN-Kämpfer verübten in dieser Zeit
in der besetzten Ukraine Massaker.
Aber was ist mit den Menschen, die heute in der Ukraine Bandera als Helden verehren? Sind die alle Nazis?
Es gibt zweifellos in der Ukraine Nazis, die Bandera vor allem
verehren, weil er 'den Kampf der Nationalsozialisten' mitgekämpft hat.
Es gibt aber zweifellos auch viele Menschen, die Bandera vor allem
dafür verehren, dass er gegen Stalin und die kommunistische Herrschaft
gekämpft hat.
Stepan Banderas Grab befindet sich auf einem Münchner Friedhof.
Bandera blieb nach Ende des Zweiten Weltkriegs in Deutschland und wurde
1959 in München von einem sowjetischen KGB-Agenten ermordet. Das Grab
ist bis heute Ziel vieler ukrainischer Bandera-Verehrer.
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Aufgabe
Der Dichter Bertolt Brecht (1898-1956) ließ in seinem Drama „Leben des Galilei“ den Wissenschaftler Galileo Galilei sagen: „Unglücklich das Land, das Helden nötig hat.“
Beziehe diese Aussage auf die Verehrung der hier genannten Helden in der Ukraine. Gehe dabei auf folgende Fragen ein:
Worin besteht das mit Helden verbundene Unglück?
Warum braucht die Ukraine gerade jetzt Helden?
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Darstellung
Eine deutsche Perspektive auf Bandera
„Wie kann man denn überhaupt mit den Nationalsozialisten
zusammenarbeiten?“, diese Frage drängt sich mir als Deutschem sofort auf,
wenn ich Geschichten wie die Stepan Banderas lese. Aus meiner Geschichte und
meiner Prägung heraus betrachte ich den Nationalsozialismus als das
schlimmste Menschheitsverbrechen, das bisher verübt wurde. Man kann aus
meiner Perspektive mit Menschen wie den Nationalsozialisten nicht
zusammenarbeiten und gleichzeitig akzeptable oder vielleicht sogar
verehrungswürdige Ziele verfolgen.
Diese Perspektive ist in Deutschland in den Jahrzehnten nach dem
Zweiten Weltkrieg hart erarbeitet und erstritten worden. Denn auch wir
haben und hatten problematische 'Helden'. Es gab in Deutschland nach
Wehrmachtsgenerälen benannte Kasernen. Auch Straßen und Plätze trugen
den Namen überzeugter Unterstützer des NS-Regimes.
Unsere gesellschaftliche Haltung zu solchen Personen ist mittlerweile
relativ klar (sie war es nicht immer): Menschen, die dem NS-Regime
nahestanden, eignen sich im Allgemeinen nicht für öffentliche
Würdigungen und Verehrung.
Gleichzeitig findet in unserer Gesellschaft eine ausdauernde und
öffentliche Auseinandersetzung über die Frage statt, welche weiteren
Personen nach wie vor zu Recht oder zu Unrecht durch Straßennamen,
Statuen u. Ä. gewürdigt werden sollen (z. B. Kaiser Wilhelm II. oder
Otto von Bismarck).
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Aufgabe
„In der Westukraine feiern sie Bandera nicht für seine Verstrickungen
in den Holocaust, sie erinnern sich ausschließlich daran, dass er
Stalin bekämpft hat. In der Ostukraine gibt es die vielen Stalinstatuen,
dort denken sie bei Stalin nicht an die Hungersnöte, nicht an den
Terror, sie erinnern nur den großen Sieg und seinen Kampf gegen den
Faschismus.“ Diese Aussage trifft der Historiker Per Anders Rudling am
Ende des Videos oben.
Recherchiere Beispiele dafür, ob bei Erzählungen über Nationalhelden immer die guten
Eigenschaften betont und die schlechten eher ausgeblendet werden.
Gibt es
möglicherweise Gegenbeispiele?
Nimm zu folgender These Stellung: „Die beste Nationalgeschichte ist die, die ohne Helden auskommt.“