Kosaken 2022 – ukrainische Soldaten und ihre Sicht auf die Geschichte

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Soldaten beim Briefeschreiben, ein aus der Zeit gefallener Sultan – was hat das zu bedeuten?

Kosaken 2022 – ukrainische Soldaten und ihre Sicht auf die Geschichte

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Lies das bevor du dich mit dem Kapitel beschäftigst!

Was ist Geschichte und wie kann man sie nutzen?

Damit du verstehst, welchen Sinn die nächsten Kapiteln haben, ist es wichtig, dass du dir nochmal klar machst, was Geschichte ist und die welchen Nutzen sie in der Gegenwart haben kann.

Geschichte ist nachprüfbare Erzählung über die Vergangenheit

Geschichte – das sind Darstellungen über vergangene Ereignisse und Personen. Solche Darstellungen müssen bestimmte Kriterien erfüllen. Es müssen zeitgenössische Quellen vorhanden sein, die belegen, dass diese Ereignisse so oder zumindest ähnlich stattgefunden haben, ansonsten wären es bloße Fantasiegeschichten. Historische Darstellungen haben einen solchen gesicherten Kern, auf den sie sich stützen. Allerdings sind sie weit mehr als nur dieser Kern.

Orientierung in der Gegenwart

Historische Darstellungen werden erstellt, um die Gegenwart zu erklären und den Menschen von heute eine Orientierung für ihr Handeln zu bieten. Der gesicherte Kern, das historische Geschehen, bietet jedoch von sich aus kaum Orientierung. Er muss interpretiert und bewertet werden. Das Verhalten der am Ereignis beteiligten Personen muss erklärt und bewertet werden. Es ist wichtig zu verstehen: Eine historische Darstellung ist eine heutige Interpretation vergangener Ereignisse.

Kein Kampf zwischen Wahrheit und Lüge

Natürlich gibt es verschiedene Interpretationen. Oft widersprechen sie sich sogar. Die Befürworter einer Interpretation behaupten dann gern, ihre Interpretation sei die richtige und die anderen seien falsch. Nach unserem Verständnis von Geschichte ist die Frage nach Richtig oder Falsch oder „Wie ist es wirklich gewesen?“ nicht vollständig und oft auch nicht klar zu beantworten. Hinzu kommt, dass wir eine andere Frage für viel wichtiger halten: „Was soll die Erzählung heute bewirken?“

Um dich heute orientieren zu können, musst du schon wissen, was du gesichert über die Vergangenheit wissen kannst und was nicht. Du musst jedoch auch verstehen können, warum unterschiedliche historische Darstellungen so konstruiert werden wie sie vorliegen. Du kannst dann eine Geschichte wählen und akzeptieren, der du folgen möchtest. Dabei solltest du jedoch zwei Dinge im Hinterkopf behalten:

  • Deine Orientierung entlang der Geschichte basiert nicht nur auf gesicherten Fakten über die Vergangenheit, sondern auch auf Interpretation und deinen Entscheidungen.
  • Die Frage, ob 'deine' Geschichte besser oder schlechter ist als andere Geschichten, kann nicht allein aus der Vergangenheit beantwortet werden, sondern muss auch aus der heutigen Zeit und ihren Umständen heraus beantwortet werden.

Ein Beispiel:

Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind eine historische Tatsache. Dass zwischen 1933 und 1945 Millionen Menschen durch die Taten vieler Deutscher getötet, gequält und verfolgt wurden, ist eine durch Quellen und Berichte eindeutig belegbare historische Tatsache. Diese Tatsachen können nun den Kern verschiedener historischer Konstruktionen bilden.

  • Eine Interpretation wäre, dass diese Verbrechen so entsetzlich und in ihrer Dimension so unbegreiflich waren, dass sie seitdem das politische und geschichtliche Verständnis der Deutschen über ihre eigene Nationalgeschichte prägen müssen. Nach der Nazi-Herrschaft musste Deutschland daher ein völlig anderes Land sein.
  • Eine andere Interpretation wäre, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten zweifellos schrecklich waren, aber nur einen kleinen, zwölfjährigen Teil der langen deutschen Geschichte ausmachen. Deutschland hat, spätestens mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 wieder zur Zivilisiertheit zurückgefunden. Die grausame Herrschaft der Nazis muss daher keine so große Rolle mehr spielen.

Unsere persönliche Position zu diesen Fragen ist: Wir wählen die erste Interpretation. Aber diese Position ergibt sich nicht zwangsläufig aus der historischen Tatsache, dass es die Verbrechen der Nazis gegen hat. Sie ergibt sich aus unserer Sicht auf die Welt, aus unseren Werten und Zielen.

Lukas Epperlein und Marcus Ventzke

Ihre Sicht auf die Vergangenheit prägt Menschen. Das geht auch den Ukrainer so, die sich gegen den russischen Angriff verteidigen. Die Kosaken sind zum Beispiel eine ukrainische Volksgruppe, deren Männer sich auch in der Vergangenheit oft gegen Überfälle und Vereinnahmungen gewehrt haben. Sie kämpfen auch heute gegen die Russen. An ihren Sichtweisen auf die Vergangenheit kann man ablesen, wofür sie stehen und welche Tradition sie hochhalten.

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Hier geht es um ein Foto aus dem Jahr 2022. Und es hängt eng zusammen mit einem Gemälde aus dem 19. Jahrhundert, einem Brief, schweren Beleidigungen und dem ersten unabhängigen Reich auf dem Gebiet der heutigen Ukraine.

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Kosakenbilder – früher und heute
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Das leicht verschwommene Foto zeigt ukrainische Soldaten im Februar 2022, kurz nach dem Beginn des russischen Überfalls und Krieges. Die Soldaten haben sich auf eine auffällige Weise gruppiert. Um zu verstehen, warum sie das tun, muss man ein bekanntes Gemälde des russischen Künstlers Ilja Repin kennen. Dieses Gemälde befindet sich direkt hinter dem Foto und wird sichtbar, wenn man den Schieberegler zur Seite bewegt. Das Gemälde trägt den Titel: „Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief“. Die Soldaten sind mit dem Gemälde vertraut, da sie sonst nicht in dieser Form für das Foto posieren würden. Es ist anzunehmen, dass sie auch mit der Geschichte hinter dem Gemälde vertraut sind.

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Darstellung

Die Saporoger Kosaken – wer ist das?

Im 16. Jahrhundert hatten sich an den Flüssen Dnjepr und Don am Rand der Steppe Grenzergemeinschaften formiert, die sich aus entlaufenen Bauern und Abenteurern rekrutierten. Die Kosaken waren im Kampf gegen die tatarischen Reiternomaden geschulte Krieger, die sich dem Zugriff Polens und Moskaus weitgehend entzogen. Sie hatten eine egalitäre politische Ordnung, der Ring oder Rat der Kosaken wählte ihren Anführer, der Hetman oder Ataman, und traf die wichtigsten Entscheidungen. Die Kosaken dienten als Grenzwächter gegenüber den Tataren und zeichneten sich als Piraten auf dem Schwarzen Meer und als Anführer von Volksaufständen aus. [...] Sie bezeichneten sich nach ihrem Zentrum „hinter den Stromschnellen“ (za porohami) des Dnjepr als Zaporožer (Zaporoher) Kosaken.

Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder – Russen und Ukrainer. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München (C. H. Beck) 2017, S. 49

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Quelle

Ein Brief an den türkischen Sultan von den Saporoger Kosaken

Im Jahr 1676 versuchte der türkische Sultan, das Gebiet der heutigen Ukraine zu erobern. Der Sultan schickte den dort siedelnden Kosaken einen Brief, in denen er ihnen vorschlug, sich seiner Herrschaft zu unterwerfen. Die Kosaken antworteten auf diesen Brief (angeblich) mit einem eigenen Brief, in den sie in etwa Folgendes schrieben:

„Du türkischer Teufel, Bruder und Genosse des verfluchten Teufels und des leibhaftigen Luzifers Sekretär! Was für ein Ritter bist du zum Teufel, wenn du nicht mal mit deinem nackten Arsch einen Igel töten kannst? Was der Teufel scheißt, frisst dein Heer. Du wirst keine Christensöhne unter dir haben. Dein Heer fürchten wir nicht, werden zu Wasser und zu Lande uns mit dir schlagen, gefickt sei deine Mutter!

Du Küchenjunge von Babylon, Radmacher von Mazedonien, Ziegenhirt von Alexandria, Bierbrauer von Jerusalem, Sauhalter des großen und kleinen Ägypten, Schwein von Armenien, tatarischer Geißbock, Verbrecher von Podolien, Henker von Kamenez und Narr der ganzen Welt und Unterwelt, dazu unseres Gottes Dummkopf, Enkel des leibhaftigen Satans und der Haken unseres Schwanzes. Schweinefresse, Stutenarsch, Metzgerhund, ungetaufte Stirn, gefickt sei deine Mutter!

So haben dir die Saporoger geantwortet, Glatzkopf. Du bist nicht einmal geeignet, christliche Schweine zu hüten. Nun müssen wir Schluss machen. Das Datum kennen wir nicht, denn wir haben keinen Kalender. Der Mond ist im Himmel, das Jahr steht im Buch und wir haben den gleichen Tag wie ihr. Deshalb küss unseren Hintern!

Unterschrieben: Der Lager-Ataman Iwan Sirko mitsamt dem ganzen Lager der Saporoger Kosaken“

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Aufgabe

  1. Analysiere die Bilder (Element 3) und arbeite konkrete Anhaltspunkte dafür heraus, dass die heutigen ukrainischen Soldaten das Gemälde Ilja Repins kennen.
  2. Lies Darstellung 5 und Quelle 6 und arbeite die Haltung heraus, die die Kosaken gegenüber fremden Herrschern hatten, die ihnen feindlich gesonnen waren.
  3. Leite mögliche Gründe dafür ab, warum die ukrainischen Soldaten der Gegenwart dieses Standbild gebaut haben?
  • An wen richtet sich das Standbild?
  • Welche Botschaft ist mit dem Bild verbunden?

Die Kosaken in ukrainischen Nationalerzählungen

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In ukrainischen Nationalerzählungen nehmen die Kosaken eine bedeutende Stellung ein. Dies liegt einerseits daran, dass sie größtenteils aus der ukrainischen Bevölkerung stammten und ihr Herrschaftsgebiet in der heutigen Ukraine gegen 'fremde Mächten' – insbesondere Polen und Türken – verteidigten. Andererseits wird das Hetmanat, das 'Reich' der Kosaken, oft als ein frühes demokratisches Herrschaftsmodell dargestellt, in dem mutige, freie und gleichberechtigte Menschen gemeinsam über ihre Angelegenheiten entschieden. Diese 'Kosakenromantik' findet ihren Ausdruck in verschiedenen Filmen, Liedern und historischen Darstellungen.

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Lied
Lied der Saporoger Kosaken
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Das "Lied der Saporoger Kosaken"
Film
Taras Bulba (Deutscher Trailer) - Yul Brynner, Tony Curtis, Christine Kaufmann
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Trailer zu dem Film "Taras Bulba" (1962)

Youtube: Plaion Pictures. 

Reenactment
Хортиця. Театр козацького бою  · Ukraїner 360
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Nachstellung historischer Ereignisse aus der Vergangenheit der Kosaken im historischen Zentrum des Kosaken-Hetmanats. Dieses befindet sich auf der Insel Chortyzja im Dnjepr.
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Heldentum und Männerromantik? Natürlich sind die tatsächlichen historischen Abläufe etwas komplizierter.

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Aufgabe

  • Wähle eine der medialen Darstellungen aus Element 9 zur  genaueren Untersuchung aus.
  • Arbeite heraus, mit welchen medialen Mitteln die Kosaken dargestellt werden. Befülle dazu die Tabelle unten.
  • Erläutere, in welcher Weise die Kosaken dargestellt werden. 
    Entscheide selbst, ob die folgende Begriffe dazu nutzen möchtest: Held, Freiheit, Natur, Mut, Kampfeswille, Gefühl, Heimat.
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Darstellung

Nicht alles war immer frei und demokratisch.

Den von Hetman Chmel'nyc'kyj (1595–1657) angeführten Kosaken [...] gelang es, den größten Teil der Ukraine von der Herrschaft Polens zu befreien. Die polnischen [...] Adligen, die katholischen Geistlichen und die Juden, die meist im Dienst des Adels standen, wurden vertrieben oder getötet. Die schrecklichen Judenpogrome forderten mindestens 20.000 Opfer und warfen einen Schatten auf den später als nationale Revolution gefeierten Volksaufstand. [...]

Chmel'nyc'kyj ging nun daran, in der Ukraine einen unabhängigen Herrschaftsverband, das sogenannte Hetmanat, zu begründen, der nach dem egalitären Muster der Kosakenheere organisiert war und offiziell als Zaporožer Heer bezeichnet wurde. Die leibeigenen Bauern wurden befreit und zu freien Kosaken erklärt. [...]

Im ukrainischen historischen Narrativ ist das Hetmanat der erste ukrainische Nationalstaat, ein Vorläufer der heutigen unabhängigen Ukraine.

Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder – Russen und Ukrainer. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München 2017, S. 50.

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Darstellung

Freiwillig unter russische Herrschaft - warum?

Die Unabhängigkeit des kosakischen Hetmanats in der heutigen Ukraine währte nicht lange. Das benachbarte polnisch-litauische Reich wollte die Kosaken wieder unter seine Herrschaft bringen und drohte, das Hetmanat zurückzuerobern. Die Kosaken brauchten einen Verbündeten oder Schutzherren und wandten sich an ihren anderen Nachbarn: das russische Zarenreich. Die Kosaken baten den Zaren mehrfach darum, „das Zaporožer Heer unter seine Hand zu nehmen“. 1654 willigte der Zar schließlich ein, in der Vereinbarung von Perejaslav trat das Hetmanat dem russischen Zarenreich bei und die Kosaken leisteten dem Zaren den Treueeid.

Lukas Epperlein, nach Andreas Kappeler, Ungleiche Brüder – Russen und Ukrainer. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, München (C. H. Beck) 2017, S. 57

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Aufgabe

  1. Arbeite die Darstellungen 11 und 12 durch und notiere Argumente dazu, warum mit dem Begriffen „frei“ und „demokratisch“ mit Blick auf die Kosakenreiche der Vergangenheit vorsichtig umgegangen werden muss.
  2. Bilde dir eine eigene Meinung: Was bedeutet der Treueeid der Kosaken von 1654 für das heutige Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland. Achte auch den Begriff „Vereinbarung“.