Damit du verstehst, welchen Sinn die nächsten Kapiteln haben, ist es wichtig, dass du dir nochmal klar machst, was Geschichte ist und die welchen Nutzen sie in der Gegenwart haben kann.
Geschichte ist nachprüfbare Erzählung über die Vergangenheit
Geschichte – das sind Darstellungen über vergangene Ereignisse und Personen. Solche Darstellungen müssen bestimmte Kriterien erfüllen. Es müssen zeitgenössische Quellen vorhanden sein, die belegen, dass diese Ereignisse so oder zumindest ähnlich stattgefunden haben, ansonsten wären es bloße Fantasiegeschichten. Historische Darstellungen haben einen solchen gesicherten Kern, auf den sie sich stützen. Allerdings sind sie weit mehr als nur dieser Kern.
Orientierung in der Gegenwart
Historische Darstellungen werden erstellt, um die Gegenwart zu erklären und den Menschen von heute eine Orientierung für ihr Handeln zu bieten. Der gesicherte Kern, das historische Geschehen, bietet jedoch von sich aus kaum Orientierung. Er muss interpretiert und bewertet werden. Das Verhalten der am Ereignis beteiligten Personen muss erklärt und bewertet werden. Es ist wichtig zu verstehen: Eine historische Darstellung ist eine heutige Interpretation vergangener Ereignisse.
Kein Kampf zwischen Wahrheit und Lüge
Natürlich gibt es verschiedene Interpretationen. Oft widersprechen sie sich sogar. Die Befürworter einer Interpretation behaupten dann gern, ihre Interpretation sei die richtige und die anderen seien falsch. Nach unserem Verständnis von Geschichte ist die Frage nach Richtig oder Falsch oder „Wie ist es wirklich gewesen?“ nicht vollständig und oft auch nicht klar zu beantworten. Hinzu kommt, dass wir eine andere Frage für viel wichtiger halten: „Was soll die Erzählung heute bewirken?“
Um dich heute orientieren zu können, musst du schon wissen, was du gesichert über die Vergangenheit wissen kannst und was nicht. Du musst jedoch auch verstehen können, warum unterschiedliche historische Darstellungen so konstruiert werden wie sie vorliegen. Du kannst dann eine Geschichte wählen und akzeptieren, der du folgen möchtest. Dabei solltest du jedoch zwei Dinge im Hinterkopf behalten:
- Deine Orientierung entlang der Geschichte basiert nicht nur auf gesicherten Fakten über die Vergangenheit, sondern auch auf Interpretation und deinen Entscheidungen.
- Die Frage, ob 'deine' Geschichte besser oder schlechter ist als andere Geschichten, kann nicht allein aus der Vergangenheit beantwortet werden, sondern muss auch aus der heutigen Zeit und ihren Umständen heraus beantwortet werden.
Ein Beispiel:
Die Verbrechen des Nationalsozialismus sind eine historische Tatsache. Dass zwischen 1933 und 1945 Millionen Menschen durch die Taten vieler Deutscher getötet, gequält und verfolgt wurden, ist eine durch Quellen und Berichte eindeutig belegbare historische Tatsache. Diese Tatsachen können nun den Kern verschiedener historischer Konstruktionen bilden.
- Eine Interpretation wäre, dass diese Verbrechen so entsetzlich und in ihrer Dimension so unbegreiflich waren, dass sie seitdem das politische und geschichtliche Verständnis der Deutschen über ihre eigene Nationalgeschichte prägen müssen. Nach der Nazi-Herrschaft musste Deutschland daher ein völlig anderes Land sein.
- Eine andere Interpretation wäre, dass die Verbrechen der Nationalsozialisten zweifellos schrecklich waren, aber nur einen kleinen, zwölfjährigen Teil der langen deutschen Geschichte ausmachen. Deutschland hat, spätestens mit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten im Jahr 1990 wieder zur Zivilisiertheit zurückgefunden. Die grausame Herrschaft der Nazis muss daher keine so große Rolle mehr spielen.
Unsere persönliche Position zu diesen Fragen ist: Wir wählen die erste Interpretation. Aber diese Position ergibt sich nicht zwangsläufig aus der historischen Tatsache, dass es die Verbrechen der Nazis gegen hat. Sie ergibt sich aus unserer Sicht auf die Welt, aus unseren Werten und Zielen.