1917/18 begann in Russland und Deutschland etwas völlig Neues. In Russland wurde die alte Monarchie von einer kommunistischen Diktatur abgelöst, in Deutschland von einer Demokratie. Die Demokratie scheiterte nach 15 Jahren, die Diktatur festigte und stabilisierte sich – unter großen Menschenopfern und schrecklicher Gewalt wurde die Sowjetunion eine moderne und mächtige Industrienation. Für mich ist diese Entwicklung schwer zu ertragen. Und sie wirft unangenehme und beängstigende Fragen auf. War die Diktatur die 'bessere' Regierungsform? In diesem Modul will ich dieser beängstigenden Frage mit euch zusammen nachgehen.
Demokratie oder Diktatur
Aufgabe
Zusammenfassung und Erinnerung
Was sind die Unterschiede zwischen einer Demokratie und einer Diktatur? Ordne die verschiedenen Aussagen unten entweder der Demokratie oder der Diktatur zu.
Was sind Weimarer Verhältnisse?
Wenn heute irgendjemand von 'Weimarer Verhältnissen' spricht, ist damit nichts Gutes gemeint. Man denkt dann an politische Radikalisierung und Zersplitterung, an Unsicherheit der Lebensverhältnisse und Wut in der Bevölkerung. Von der Weimarer Republik zu lernen, heißt heute meistens, zu versuchen, ihre Fehler zu vermeiden.
'Weimarer Verhältnisse' könnten für uns aber auch etwas anderes bedeuten. Dass heute alle Männer und Frauen ab 18 wählen dürfen, sind Weimarer Verhältnisse. Dass wir Grundrechte in unserer Verfassung haben, sind Weimarer Verhältnisse. Dass der Staat nicht überall mitbestimmen darf, dass er Grenzen hat, die er respektieren muss, sind Weimarer Verhältnisse. In unserer heutigen, zweiten deutschen Demokratie steckt noch viel aus der ersten, der Weimarer Demokratie.
Information für Lehrkräfte
Dokumentarfilm „Wir Deutschen und die Demokratie“
Information für Lehrkräfte
Dokumentarfilm „Wir Deutschen und die Demokratie“
Zeigen Sie Ihrer Klasse die ersten 20 Minuten des Dokumentarfilms. In einer anschließenden Plenumsdiskussion können Sie die folgenden Fragen bearbeiten:
- Drei Stärken und drei Schwächen der Weimarer Republik, die im Dokumentarfilm genannt werden.
- Welche war die größte Stärke und die schlimmste Schwäche der Weimarer Republik? Diese subjektive Einschätzung sollte begründet werden, auch durch Argumente aus den vorhergehenden Modulen.
Weimar aus heutiger Sicht
Darstellung
Auszug aus der Rede des Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier zum Festakt „100 Jahre Weimarer Reichsverfassung“ am 6.2.2019
Darstellung
Auszug aus der Rede des Bundespräsidenten Frank Walter Steinmeier zum Festakt „100 Jahre Weimarer Reichsverfassung“ am 6.2.2019
[...]
Diese Weimarer Verfassung machte das Deutsche Reich zur Republik und das Volk zum Souverän. Sie verbriefte die Freiheit des Einzelnen und sie entwarf, inmitten der Nachkriegsnot, die Vision einer besseren, gerechteren Gesellschaft.
Wer heute in dieser Verfassung blättert, der staunt, wie fortschrittlich viele ihrer Ziele waren und wie aktuell sie immer noch klingen. Ja, es war wahrhaft revolutionär, was da geschrieben stand.
Artikel 119: Die Ehe „beruht auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter“.
Artikel 146: „Für die Aufnahme eines Kindes in eine bestimmte Schule sind seine Anlage und Neigung, nicht die wirtschaftliche und gesellschaftliche Stellung oder das Religionsbekenntnis seiner Eltern maßgebend.“
Artikel 151: Die Ordnung der Wirtschaft „muss den Grundsätzen der Gerechtigkeit mit dem Ziele der Gewährleistung eines menschenwürdigen Daseins für alle entsprechen“.
Welch kraftvolle, hoffnungsfrohe Ideale in einer so entbehrungsreichen Zeit!
„Eine Fackel ist die Weimarer Verfassung. Wir wollen sie hochhalten“, ruft Heinrich Mann 1923, vier Jahre nach ihrem Inkrafttreten. Heute wissen wir: Am Hochhalten hat es bitterlich gemangelt. Aber ich finde, Leuchtkraft hat diese Fackel sogar heute noch!
[...]
Ich will nur vor zwei Kurzschlüssen warnen. Erstens: Das Lob unserer heutigen Verfassung bedeutet nicht, dass ihre Vorfahrin aus Weimar eine schlechte gewesen wäre! Im Gegenteil, vieles von dem, was damals entstand, lebt heute im Grundgesetz fort. Weimars Ideale von Freiheit und Demokratie, Rechts- und Sozialstaatlichkeit sind eben nicht historisch gescheitert, sondern sie sind – zum Glück! – fester und wehrhafter eingelassen in das Fundament unserer Republik!
Und zweitens: Das Lob unserer heutigen Verfassung bedeutet schon gar nicht, dass wir uns zurücklehnen könnten! „Keine noch so kluge Verfassung“, schreibt der ehemalige Verfassungsrichter Udo di Fabio, kann „vor dem Versagen der Demokratie, vor ihrer Selbstzerstörung schützen“ – ob sie nun eine Folge aktiven Handelns oder eine Folge von Lethargie und Gleichgültigkeit ist.
Nein, meine Damen und Herren, solange Parlamente als „Quatschbuden“ verschrien werden; solange politisch Engagierte, Bürgermeister oder Oberbürgermeister mit Worten oder sogar mit physischer Gewalt angegriffen werden; solange Menschen den Glauben an den Wert der Demokratie verlieren, können wir uns nicht zurücklehnen!
Denn: So wenig der Demokratie vor hundert Jahren ihr Scheitern vorherbestimmt war, so wenig ist heute ihr Gelingen garantiert.
Lethargie: hier: Tatenlosigkeit
Aufgabe – Unser Blick auf Weimar
- Steinmeier führt in seiner Rede drei Artikel der Weimarer Verfassung auf. Nenne sie und beschreibe ihren Inhalt mit eigenen Worten.
- Wird das, was diese Artikel fordern, heute noch in der BRD umgesetzt? Begründe deine Antwort.
- Erkläre die beiden 'Kurzschlüsse', vor denen Steinmeier am Ende seiner Rede warnt. Gehe dabei vor allem auf die beiden letzten Absätze ein.
Was sagen Russen heute zum Stalinismus?
Jedes Land hat ein besonderes Verhältnis zu seiner eigenen Geschichte. Jeder kann sich über geschichtliche Ereignisse überall auf der Welt informieren. Aber wenn diese Ereignisse etwas sind, das deine Vorfahren und die Vorfahren deiner Mitmenschen selbst erlebt haben, werden diese Ereignisse in deinem Alltag eine andere Rolle spielen. Um den Stalinismus beurteilen und verstehen zu können, ist es wichtig, russische Perspektiven auf den Stalinismus zu bekommen. Aber wie macht man das als Deutscher, der vielleicht überhaupt kein Russisch spricht oder versteht?
Für dieses Modul stützen wir uns dabei auf zwei Quellen: den russischen Journalisten und Videoblogger Juri Dud und das Internetportal dekoder.org. Zu beiden findest du unten einen kurzen Infokasten.
Darstellung
Wer ist Juri Dud?
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Wer ist Juri Dud?
Seit Februar 2017 ist die russische Medienszene um einen YouTube-Kanal und Medienstar reicher. vDud (rus. „вДудь“) heißt das Interview-Projekt des Sportjournalisten und Bloggers Juri Dud, das drei Jahre nach seinem Start über sieben Millionen Abonnenten und über 925 Millionen Aufrufe vorweisen kann. [...]
Die Erfolgsstrategien von Duds YouTube-Projekt sind einfach, transparent und unverhohlen kommerziell. Dies schmälert jedoch keineswegs seine gesellschaftliche und politische Bedeutung. [...] Dud [formuliert] seine Kritik am heutigen Fernsehen deutlich und schonungslos: „Wir sind es gewohnt, dass das Fernsehen eine Schande ist. Das wichtigste Massenmedium des Landes lügt, fügt Schaden zu, bereitet die Bevölkerung auf den Krieg vor und kommuniziert mit den Menschen in einer toten Komsomol-Sprache.“ [...]
Die Auswahl der Gäste wie auch die Diskussionsthemen zeigen, dass Dud einerseits seine eigene Generation und vor allem junge Menschen ansprechen will, während er andererseits über seine Diskussionspartner die jüngere Vergangenheit des Landes ergründet. Das Interesse an der Zeit und den Personen, die ihn persönlich geprägt haben, verpackt er häufig in bewusst naive, mitunter provokative, jedenfalls aber ungewohnt direkte Fragen. Gerade dies verleiht den Interviews eine Lebendigkeit, Natürlichkeit und Aufrichtigkeit, die man im Fernsehen mittlerweile kläglich vermisst.
Hinweis und Nachtrag: Nach Ausbruch des Ukrainekriegs im Februar 2022 wurde Dud in Russland auf die Liste der „ausländischen Agenten“ gesetzt. Er verließ das Land und lebt und arbeitet momentan [06.05.2022] in der Türkei.
Darstellung
Was ist dekoder.org
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Was ist dekoder.org
Hinweis: Der Text stammt von der Wikipedia-Seite zu dekoder.org
Die Internetplattform dekoder.org (Eigenschreibung: дekoder oder dekoder bzw. dekoder.org) verbindet russischen und belarussischen Journalismus in deutscher Übersetzung mit [...] Beiträgen europäischer Wissenschaftler. Der Slogan der Website lautete Russland entschlüsseln, [...].
Ziele
dekoder hat sich zum Ziel gesetzt, die im deutschsprachigen Raum geführten Russland- und Belarus-Debatten durch journalistische Stimmen aus den Ländern selber zu bereichern und diese Stimmen durch Kontextualisierung für nicht-russischsprachige Leser verständlich zu machen. Ein besonderes Augenmerk liegt hierbei auf unabhängigen, nicht vom russischen/belarussischen Staat finanzierten und kontrollierten Internet-Medien. [...]
Finanzierung
Die dekoder-gGmbH als Trägerorganisation ist eine gemeinnützige GmbH mit den Satzungszielen Völkerverständigung und Bildung. Das Projekt wird durch Spenden getragen, das Internet-Angebot ist kostenfrei. Das Portal ist unabhängig von staatlicher Finanzierung und nimmt keine Förderung von Parteistiftungen an.
Aussagen zum Stalinismus
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'Ein Loblied auf Stalin' (2018)
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'Ein Loblied auf Stalin' (2018)
Hinweis: Der folgende Text ist eine Abschrift der deutschen Übersetzung eines Interviews, das der russische Journalist und Videoblogger Juri Dud 2018 mit Pawel Grudinin führte. Grudinin war damals Kandidat der kommunistischen Partei Russlands für die Präsidentschaftswahl.
Die Übersetzung stammt von der Website dekoder.org, die hier auch das komplette Interview auf YouTube kommentiert und verlinkt hat.
Dud: Der beste Staatsführer Russlands in den letzten 100 Jahren war Ihrer Meinung nach?
Grudinin: Stalin.
Dud: Warum?
Grudinin: Wer denn sonst, wenn man Lenin mal außen vor lässt? […] Stalin hat für das Land ein jährliches BIP-Wachstum von 15 Prozent erreicht, wissen Sie, was das heißt? China hat momentan 6 bis 7 Prozent, der weltweite Schnitt liegt bei 3. Stalin hat aus einem Land der Analphabeten ein Land mit der besten Bildung gemacht. Und er hat in ziemlich kurzer Zeit – denken Sie an 1945, alles lag völlig in Trümmern – und er hat das Land so aufgebaut, dass sie in den Kosmos gestartet sind.
Dud: Wer hat nochmal die Fabriken in Magnitogorsk und anderswo gebaut?
Grudinin: Sowjetbürger
Dud: Ich glaube, Sie haben da ein Wort vergessen.
Grudinin: Nein, es waren Sowjetbürger.
Dud: Gefangene Sowjetbürger.
Grudinin: Moment mal bitte. Wer hat denn Sankt Petersburg errichtet? Kennen Sie den Satz, dass Sankt Petersburg auf den Knochen von Bauern gebaut ist?
Dud: Natürlich. Aber wir reden gerade nicht über Peter den Großen. Wir reden darüber, dass das, was Sie gerade erzählen wollen, von wegen; „Er bekam [das Land] mit einem Holzpflug und hinterließ es mit einer Atombombe“ – das wurde doch alles von Knackis gemacht.
Grudinin: Ein Chef muss so handeln, dass es in seinem Betrieb oder Land mehr Gutes gibt, mehr Ehrlichkeit. Aber den Chef für alles verantwortlich zu machen, was im Land oder im Betrieb passiert, ist sinnlos. Denn kennen Sie den Satz: „Sicher war Stalin irgendwo auch im Unrecht. Aber irgendwer hat doch die 5 Millionen Denunziationen geschrieben?“ […]
Dud: Wenn es Stalin nicht gegeben hätte, hätte man niemandem schreiben können.
Grudinin: Was meinen Sie?
Dud: Naja, wenn niemand die Schwachen, die Anschwärzer und Denunzianten in Angst und Schrecken gehalten hätte, hätte es auch keine Adressaten für diese Schreiben gegeben.
Grudinin: Juri, Sie sind das Opfer von Propaganda. Noch einmal: Meine Großväter und Großmütter haben unter Stalin gelebt. Und sie hatten überhaupt keine Angst.
Dud: Hebt das denn das andere auf? [...]
BIP: Bruttoinlandsprodukt; darin wird der Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen, die in einem Land im Jahr produziert und erbracht werden, zusammengezählt. Wichtige Zahl, um die Wirtschaftskraft eines Landes zu bestimmen.
Peter der Große (1672–1725): erster Zar Russlands, ließ die Stadt Sankt Petersburg in einem Sumpfgebiet erbauen, dabei starben viele der eingesetzten Arbeiter.
Knackis: umgangssprachliches Wort für Gefangene
Denunziationen: denunzieren heißt, jemanden anschwärzen, beschuldigen
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Wie wirkt der Stalinismus heute noch nach?
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Wie wirkt der Stalinismus heute noch nach?
Der Journalist und Videoblogger Juri Dud in seinem Film 'Kolyma' über die Frage, warum er diesen Dokumentarfilm über das stalinistische Straflagersystem in Ostsibirien überhaupt mache:
Grund Nummer 1: Im Oktober 2018 veröffentlichte VTsIOM eine Untersuchung, die uns erschütterte. Fast die Hälfte der jungen Russen zwischen 18 und 24 Jahren hatten noch nie von den stalinistischen Repressionen gehört. Das sahen wir als Herausforderung an und warteten auf den richtigen Zeitpunkt, sie anzunehmen.
Grund Nummer 2: Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe mein ganzes Leben meine Eltern Sätze sagen hören wie: „Sei vorsichtig. Errege keine unnötige Aufmerksamkeit. Fall nicht auf. Wir sind nur einfache Leute – wir halten uns da raus.“ Meine Eltern sind wunderbare Menschen und ich liebe sie über alles. Aber sie wiederholen diese Dinge seit Jahrzehnten, selbst in Momenten, wo die Vernunft offensichtlich mit Füßen getreten wird, in denen die Ungerechtigkeit siegt und wir glasklar im Recht wären. Ich habe mich immer gefragt: Woher kommt diese Furcht in der älteren Generation? Woher kommt dieser Wunsch, alles mit einem grauen Mantel zu bedecken? Warum gehen sie selbstverständlich davon aus, dass auch nur das kleinste bisschen Mut sofort bestraft werden wird? Meine Theorie ist, dass diese Furcht in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts geboren wurde und dass sie von Generation zu Generation weiter nach uns greift. Einer der Orte, aus denen diese Furcht stammt, ist Kolyma.
VTsIOM: russisches Meinungsforschungsunternehmen
Kolyma: eigentlich ein Fluss in Ostsibirien. Hier aber Bezeichnung für die Region um diesen Fluss, in der unter Stalin zahlreiche Straflager eingerichtet wurden.
Hinweis: Dieser Text stammt von der Seite dekoder.org, du findest den vollständigen Text hier. Der Film 'Kolyma' von Juri Dud ist vollständig (russisch mit englischen Untertiteln) und als Trailer (russisch mit deutschen Untertiteln) auf YouTube zu sehen.
Galerie: Kolyma
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Die Toten sprechen nicht
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Die Toten sprechen nicht
Eine Schwierigkeit in der Beurteilung von Diktaturen im Nachhinein ist folgende: Die Toten sprechen nicht. Diktaturen bringen oft genau die Menschen um, die nicht einverstanden sind, die kritisieren, die sich ein anderes System wünschen. Das bedeutet, dass die Menschen übrig bleiben, die sich irgendwie mit der Diktatur arrangieren. Dafür gibt es viele Gründe: Angst um das eigene Leben, politische Überzeugung oder die Vorteile, die eine Diktatur den 'anständigen Bürgern' oft genug bietet.
Die Verhungerten, die Hingerichteten, die in Sibirien Erfrorenen erzählen keine Geschichten. Aber wahrscheinlich wären ihre Geschichten andere als die der Überlebenden.
Aufgabe – 'Loblied auf Stalin'
- Lies das Interview in Element 13 vollständig durch. Fasse dann Argumente und Gegenargumente in eigenen Worten zusammen. Vervollständige dafür diese beiden Sätze:
- Grudinin: „Stalin ist der beste Staatsführer Russlands, weil ...“
- Dud: „Stalin ist nicht der beste Staatsführer Russlands, weil ...“
- Nimm Stellung zur Argumentation Grudinins. Beziehe dich dabei auch auf den Inhalt der vorangegangenen Modul, z. B. Element 27 im ersten Modul, Element 11 im zweiten Modul und Element 16 im dritten Modul.
Hebt das eine denn das andere auf?
„Hebt das [eine] denn das andere auf?“ Diese Frage stellt Juri Dud am Ende des Interviews in Element 13. Diese Frage ist zentral für die Beurteilung einer Diktatur. „Das eine“ sind hier die Erfolge, die die Diktatur für sich verbuchen kann, und „das andere“ ist der Preis, der dafür gezahlt wurde. Um Stalin als einen erfolgreichen Politiker bezeichnen zu können, wie es Grudinin im Interview tut, muss man diese Frage mit „Ja“ beantworten: „Ja, industrieller Fortschritt und ein verbessertes Bildungs- und Gesundheitssystem wiegen den Tod von Millionen Menschen, das Zerstören unzähliger Existenzen auf“.
Die Frage ist kompliziert und es ist möglich, auf sie aus unterschiedlichen Gründen unterschiedliche Antworten zu geben. Aber die Antwort auf diese Frage ist wichtig. Denn die Geschichte zeigt uns, dass sie enorme Folgen haben kann.
Aufgabe
„Hebt das [eine] denn das andere auf?“
Können harte oder sogar verbrecherische staatliche Maßnahmen durch das durch sie erzielte Gute ausgeglichen werden? Versuche Maßstäbe zu finden, nach denen sich diese Frage für dich beantworten lässt und formuliere dazu einen kurzen Text. Wichtig für diese und die folgenden Aufgaben ist: Es gibt keine richtigen und falschen Antworten.
Aufgabe
Unten stehen vier Aussagen. Gib jeder Aussage einen Wert von 1 bis 5, wobei 1 bedeutet „ich stimme überhaupt nicht zu“ und 5 „ich stimme total zu“.
- „Ein Staat darf für eine gute Sache Opfer von seiner Bevölkerung verlangen.“
- „Ein Staat darf sich gegen Gegner, die unfair kämpfen, auch mit unfairen Mitteln wehren.“
- „Wenn ein Staat bedroht ist, gelten für ihn andere Regeln als in normalen Zeiten.“
- „Grund- und Menschenrechte darf ein Staat unter keinen Umständen einschränken.“
Aufgabe
Wähle eine Aussage aus der letzten Aufgabe, der du einen hohen Wert gegeben hast und erfülle die Aufgabe dahinter. Du darfst Beispiele aus Weimar und dem Stalinismus oder Beispiele aus der Gegenwart wählen.
- „Ein Staat darf für eine gute Sache Opfer von seiner Bevölkerung verlangen.“:
Finde ein Beispiel für eine gute Sache, die Opfer wert ist, ein Opfer, das gerechtfertigt wäre sowie ein Opfer, das zu viel und nicht gerechtfertigt wäre. - „Ein Staat darf sich gegen Gegner, die unfair kämpfen, auch mit unfairen Mitteln wehren.“:
Finde ein Beispiel für einen solchen Gegner und ein Beispiel für unfaire staatliche Verteidigung. - „Wenn ein Staat bedroht ist, gelten für ihn andere Regeln als in normalen Zeiten.“:
Finde ein Beispiel für eine Bedrohung und ein Beispiel für eine Regel, die in einer Bedrohungssituation gestrichen oder abgeändert werden könnte. - „Grund- und Menschenrechte darf ein Staat unter keinen Umständen einschränken“:
Finde ein Beispiel für ein solches Menschenrecht und eine Situation, in der es für den Staat nützlich sein könnte, dieses Recht einzuschränken, er es aber dennoch nicht tun sollte.
Aufgabe – Aktuelle Probleme
Erörtere auf Basis deiner Vorüberlegungen aus den Aufgaben oben ein aktuelles politisches Problem. Schau dir dafür den Darstellungskasten (Element 22) unten an und wähle entweder eines der dort aufgeführten Probleme aus oder wähle (in Absprache mit deiner Lehrerin/deinem Lehrer) ein ähnlich schwieriges Problem. Wichtig dabei ist, dass es bei dem von dir gewählten Problem mehrere Lösungsmöglichkeiten geben muss, für die es jeweils gute Argumente gibt.
Darstellung
Schwere Entscheidungen, zwei aktuelle Beispiele (Mai 2022)
Darstellung
Schwere Entscheidungen, zwei aktuelle Beispiele (Mai 2022)
Im Mai 2022 sieht sich die deutsche Bundesregierung zwei schwierigen Entscheidungen gegenüber. Am 24.2. hat Russland die Ukraine überfallen und führt seitdem in der Ukraine Krieg. Viele Tausend Menschen sind bereits gestorben und es sieht momentan (August 2022) so aus, als würde dieser Krieg noch Monate, wenn nicht Jahre andauern.
Problem 1: Deutschland kauft seit langer Zeit sehr viel Erdgas aus Russland. Mit diesem Gas werden deutsche Wohnungen beheizt und in der deutschen Industrie Fabriken betrieben. Ohne dieses Gas müssten viele Fabriken stillstehen, Menschen würden entlassen werden, Firmen würden pleitegehen und vielleicht könnte im Winter nicht mehr überall geheizt werden. Erdgas aus anderen Ländern ist teurer und schwer zu bekommen.
Wiegt der Erfolg, weiterhin allen deutschen Wohnungen und Fabriken relativ günstiges Erdgas zur Verfügung stellen zu können, den Preis auf, jeden Tag viel Geld an Russland zu bezahlen, mit dem dieses seinen brutalen Angriffskrieg weiterfinanzieren kann?
Problem 2: Die deutsche Regierung hat sich zu Beginn des Krieges entschieden, die Ukraine mit Waffenlieferungen zu unterstützen. Je länger der Krieg dauert, desto mehr Forderungen gibt es, der Ukraine immer mehr und immer gefährlichere Waffen zu schicken. Man weiß aber nicht, wie der russische Präsident Wladimir Putin auf diese Lieferungen reagieren wird. Wird er Deutschland ebenfalls zum Kriegsgegner erklären, wird er Deutschland oder die EU angreifen? Wird der Krieg durch die vielen Waffen nicht noch brutaler und länger andauern?
Wiegt der Erfolg, die angegriffene Ukraine zu unterstützen, den Preis eines erhöhten Risikos, dass der Krieg länger und weitreichender wird, auf?