Audioguide Rubens:
Wie Sie vielleicht erahnen können, habe ich mein Bild „Der Raub
der Töchter des Leukippos“, das ich gerade fertiggestellt habe, unter die
Auswahl geschmuggelt und ich muss sagen, es ist überaus interessant, sich mit
der Frage „Was ist schön?“ durch die Jahrhunderte zu bewegen. Ja, meine
Darstellung von Figuren, vor allem der weiblichen, unterscheiden sich deutlich
von denen vorhergehender und auch nachfolgender Künstler. Warum das so ist, versuche
ich Ihnen im Folgenden zu erklären. Wissen Sie, meine Zeit ist eine Zeit der
Gegensätze. Seit Luther vor hundert Jahren die 95 Thesen an die Schlosskirche
zu Wittenberg geschlagen hat, gibt es ständig Konflikte und
Auseinandersetzungen zwischen den Katholiken und den Protestanten. Einen
weiteren Gegensatz gab es zwischen den in Prunk lebenden Herrschern und
dem armen einfachen Volk. Der Adel lebte in Luxus und erging sich in
Lebensfreude, wohingegen die Bevölkerung hungerte und auf ein besseres Leben im
Jenseits hoffte. In Kunstwerken werden Symbole, die auf die Vergänglichkeit
hinweisen, sogenannte Vanitas-Motive, beispielsweise der Totenkopf, das
Stundenglas oder verderbendes Obst, eingearbeitet. Essen bzw. Nahrungsmittel
sind ein Zeichen des Wohlstands, das Schönheitsideal veränderte sich. Frauen
mit üppigen Formen zeugen von Reichtum und Gesundheit.
Wenn man sich das Thema meines Bildes „Der Raub der Töchter des Leukippos“ zu Gemüte führt, erkennt man schnell, dass ich in dem klassischen Kanon der mythologischen Themen geblieben bin. Da bin ich meinen Vorgängern und Vorbildern Leonardo und Michelangelo, die ich eingehend studiert habe, treu geblieben. Ich habe ihren Vorträgen sehr interessiert gelauscht und ich kann ebenso bestätigen, dass das Studium der Werke der Antike für den eigenen Schaffensweg enorm förderlich ist. Ich muss gestehen, manchmal kopiere ich sie und nutze sie als Grundlage für meine Werke. Wie zum Beispiel Giovanni da Bologna, auch Giambologna genannt, er hat im Jahr 1579 - als ich gerade einmal zwei Jahre alt war - die geniale Skulptur „Der Raub der Sabinerinnen“ geschaffen. Die Figuren sind ineinander verdreht, sie winden sich dynamisch zum Himmel, sind gespannt bis in die Spitzen der Finger. Die Dramatik, die man auch von den Werken der hellenistischen Kunst der alten Griechen kennt, ist aus jeder „Pore“ der Körper zu spüren. Noch dazu hat Giambologna diese Skulptur aus nur einem Marmorblock gehauen. Kennen Sie sich bereits damit aus, nach welchen unterschiedlichen Ideen eine Figur im Raum gestaltet werden kann?